LOB DES UMLAUTS

EILIGE DEPESCHE AN WOLTER

Es gibt alles. Nur kein lebbares Präsens. Wenn aber doch, dann unergriffen und unbegreifbar. Und da fragen Sie mich noch nach der Mitte des Lebens. Das kann nicht Ihr Ernst sein. Das kann bestenfalls Ihr blutiger Ernst sein.
Das eben ist ja das Leben, daß es nie ist, sondern immer nur war, sein und gewesen sein wird.
Leben, mit Bedeutsamkeit erheischendem großem L vor dem kleinen „eben“ – in dem sich das Plane und Platte ebenso breitmacht, wie die Vertikale des Immerzufrüh und Immerzuspät sich hoch- und querstellt – ist nichts als ein Schreib- und Denkfehler für „leben“. Ein Verschreiber, der kreißte und einen Mythos gebar. Einen Mythos von bodenloser Tragfähigkeit. Dem nachdenkend, enträtselt sich Leben als Schwingung und Schweben. Aber die Häuser? Sie schwingen mit. Stehn auf der Kippe felsgewordener Klänge, auf Simsen bizarr über dem Abgrund hängender Cluster. Dennoch kennen auch die Klänge kein Präsens. Sie überspannen es.
Glaube ich das? Vielleicht ja. Höre ich das? Kaum. Lebe ich das? Unmöglich. Ich vergehe in ihm, resonant und räsonnierend. Wenn ich übermorgen gewesen sein werde, war gerade heute die Mitte. „Erst einen Tag vor dem letzten“, schrieb ich, „stehen wir in der Hälfte unseres Lebens“. Und was tat ich?
Ich schicke ebendiese Depesche schleunigst in die womöglich lichte Vergangenheit ihres – hoffentlich – baldigen von Ihnen Empfangenwordenseins.

6. Dezember 1985